Fahrbericht:
Moto Guzzi Le Mans 1

aus KRADBLATT 12/01

von Andy Schwietzer
Im Vergleich zu einer FJR 1300 oder einer CBR 900 RR wirkt die aktuelle Le Mans wunderbar nostalgisch und von wildem Wesen. Vergleicht man sie jedoch mit der umbarmherzig harten, Körper und Geist fordernden unnachahmlich schlanken Urversion von 1976 weiß man, dass der Fortschritt die Motorräder zwar schneller und sicherer, aber nicht immer sinnenfroher machte...
Natürlich macht angesichts einer „Lehmann eins" Erinnern Spaß: 1976 war die erste Ölkrise gerade überstanden, in der Bundesrepublik ging es wieder bergauf mit der Wirtschaft, Helmut Schmidt wurde erneut Bundeskanzler der BRD und die DDR wies nicht nur Lothar Loewe, sondern auch Wolf Biermann aus. Aus dem Radio dröhnten die Bay City Rollers und Moto Guzzi präsentierte ein Motorrad, dessen Ausstrahlung heute noch das Markenimage mitprägt, wie man es an der Edel-Version der V 11 bemerken kann: Die Moto Guzzi 850 Le Mans. Das rote Geschoss wurde, da es sich so gut verkaufte, fünf Mal aufgelegt, so dass die Ende 1976 präsentierte Ur-Version in der Nomenklatur die I erhielt. Und genau dieses Urmodell ist heute unter Sammlern am begehrtesten.
Verantwortlich für die schnelle Maschine mit dem charakteristischen V 2-Triebwerk und dem Wellenantrieb zum Hinterrad war Ingenere Lino Tonti. Tonti hatte um den seit 1966 gebauten robusten V 2-Motor einen flachen Rahmen aus Dreiecksverbänden gezeichnet, der 1971 in der Guzzi V 7 Sport Premiere hatte. Dazu musste lediglich die riemengetriebene Lichtmaschine einer ebensolchen auf dem vorderen Kurbelwellenende weichen. Der Rahmen, dessen Dreiecksverbände fast nur aus geraden Rohren bestand, sollte sich als großer Wurf erweisen, der Guzzi mit einem Schlag an die Spitze des Sportmaschinenangebots katapultierte. Die V 7 Sport lag bei hohem Tempo besser auf der Straße als der Rest der Welt.
Im Lauf der Jahre erhielt die Maschine Scheibenbremsen und ein damals einzigartiges „Integralbremssystem". Das heißt, der Fuß betätigte die Bremse hinten und eine Scheibe im Vorderrad. Nur die rechte Scheibe vorn wurde vom Lenker aus bedient. An Regelungssysteme war damals noch nicht zu denken, doch die Abstimmung der drei Bremsen zueinander gelang. Alte Guzzisti schwören noch heute auf das System. 1976 streckte man schließlich die Bohrung auf 83 mm und den Hub auf 78 mm. Damit sollte die Durchzugsschwäche, die durch TÜV-konforme Auspufftöpfe entstanden war, ausgeräumt werden. In Verbindung mit der neuen Optik entstand ein neues Modell, die Le Mans. Der Name stammt von dem berühmten Langstrecken-Rennkurs nahe dem französischen Orleans, wo Guzzi zu Beginn der Siebziger dem Rest der Welt zeigte wo der Hammer hängt!
Schlank, niedrig und langgestreckt wartet sie in der Sonne. Rot, ist sie - wie ein Ferrari. Die Versuchung fährt stets mit, wenn die kleinen Choke-Hebel an den Dell'Orto-Vergasern umgelegt werden, und der V 2 gestartet wird. Grollend erwacht das 70 PS starke Aggregat zum Leben. Ventilgeklapper, Ansauggeschnüffel und ein hämmernd unregelmäßiger Schlag aus den beiden Töpfen zeigen, dass dieses Heavy Metal-Triebwerk aus einer anderen Zeit stammt. Schon der Ton verführt Viertaktfans zum Träumen und Gasgeben. Ein Gasstoß, und das Rückdrehmoment der Kurbelwelle will Mann und Maschine nach rechts schmeißen.
Hier ist der derbe Griff gefordert. Anders als bei den Handschmeichlern von Honda braucht die Le Mans einen zupackenden Befehlshaber. Die Bedienungselemente gehen schwer genug um Schreibtischtätern Sehnenscheidenentzündungen zu bescheren. Das Getriebe will bewusst geschaltet werden und der Lenkeinschlag ist nur minimal. Stau- und Großstadtverkehr sind nicht das Element der bockharten Guzzi, obwohl sie auch aus niedrigen Drehzahlen kräftig lostreckert. Erst auf freier Strecke lässt sie das Herz ihres Piloten singen. Die rennmäßig lang übersetzte und perfekt gestufte Fünfgangbox bietet bei 100 km/h vier Gänge und Drehzahlen von 3700 U/min bis 7000 U/min zur Wahl. Ab 4500 U/min heißt es festhalten, und die schlanke Italienerin stürmt mit mehr als 7 mkp bulligem Drehmoment dank kleiner Stirnfläche und schmaler Reifen rasant auf die 200er Marke zu. Schnelle Landstraßenritte werden zum sinnlich-rasanten Genuss, ohne dass man wie mit einem aktuellen Superbike in die Geschwindigkeitsbereiche eines startenden Düsenjägers vorstößt.
Die 18er Räder mit Trennscheibenbereifung laufen millimetergenau um Radien aller Art, ohne sich von Rillen, Rinnen oder Verwerfungen im Asphalt aus der Ruhe bringen zu lassen. Der Preis für das damals sensationell gute Verhalten ist eine ausgeprägte Sturheit bei Richtungsänderungen, die Kurvenfahren zur körperlichen Arbeit macht. Die Le Mans will mit Kraft und Instinkt in Schräglage gebracht werden, dann fährt sie den Rest der Kurve wie ein Schienenfahrzeug. Auch Hochgeschwindigkeitspendeln, seinerzeit bei der Konkurrenz aus Japan alltägliche Ursache tödlicher Unfälle, ist der rund 190 km/h schnellen Roten unbekannt. Die Bremsen, damals hohe Klasse, genügen heute noch, mehr aber nicht.
Dennoch bleibt die Le Mans ein Charakterstück für Genießer mit Sachverstand und starken Unterarmen. Die einzigartige Komposition von Machismo, Design, Tempo und grollendem Bass wird heute von Liebhabern wieder honoriert. Nachdem fast jede Le Mans sportlich individualisiert wurde, zählt heute Originalität. Ab 4000 DM beginnt der Einstieg in die Legende. Perfekte Exemplare kosten um die 10.000 DM. Ersatzteile sind verhältnismäßig billig und gut zu kriegen. Noch dazu ist der Aufbau der Maschine schrauberfreundlich und ihr Benzinverbrauch lächerlich gering.
Fazit: Ein schneller Klassiker ohne Wertverlust für Kenner mit starken Unterarmen und schluckfreudiger Wirbelsäule.